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DRG Magazin 2/2017

Das Ende des Schweigens AAuf Youtube kann man sich Interviews anschauen, die der Illustrator David Small anlässlich der Nominierung seines Buches „Stiche. Erinnerungen“ für den National Book Award gegeben hat. Man sieht dort einen freundlichen, nachdenklichen Mann, der reflektiert und offen über seine Arbeit spricht, mit ruhiger, warmer Stimme. Das erscheint selbstverständlich. Dass es das nicht ist, erfährt man, wenn man Smalls autobiografisches Buch liest. Der in Detroit aufgewachsene Illustrator ist in den USA vor allem als Kinderbuchautor bekannt. Seit mehr als dreißig Jahren verfasst der mittlerweile 71-Jährige vielfach prämierte Bilderbücher. „Stiches. A Memoir “, so der Originaltitel seiner 2009 erschienenen Graphic Novel, ist Smalls Debüt als Comic-Autor. Er hat sich darin seiner eigenen Biografie zeichnend angenähert. Er erzählt die Geschichte seiner Kindheit und Jugend im technikgläubigen Amerika der 50er-Jahre – und die einer dysfunktionalen Familie, in der vor allem geschwiegen und verdrängt wurde. Small berichtet in seinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die an die Suspense-Filmklassiker von Alfred Hitchcock und an das surreale Kino von Luis Buñuel erinnern, von einem bürgerlichen Haushalt, von emotional abwesenden Eltern, die mit ihren eigenen Dämonen kämpfen, von belastenden Familiengeheimnissen und der Katastrophe, die seine Kindheit und Jugend prägen sollte. Der sechsjährige David litt an Stirnhöhlenvereiterungen. Sein Vater Ed, Röntgenarzt am Detroit Osteopathic Hospital, behandelte ihn selbst. Die enorm hohe Strahlendosis, die er seinem Sohn David (und auch dessen Bruder Ted) verabreichte, war ein übliches Verfahren zu jener Zeit. „Ich erinnere mich an das Gefühl der eiskalten Oberfläche der Tische, auf die wir gelegt worden sind, um geröntgt zu werden, manchmal nur auf einem dünnen Laken. Und an den Kreidegeschmack von nicht aromatisiertem Barium, an das grünliche, unterwasserhafte Leuchten der Bildschirme, auf dem unsere Innereien zu sehen waren“, sagt Small. Röntgenstrahlen galten Mitte des vergangenen Jahrhunderts als Allheilmittel und Patentlösung. Nicht nur in der Medizin: Sogar in Schuhgeschäften, wo jeder, der wollte, seinen Fuß in eine kleine Röntgenmaschine stecken und sich seine Füße ansehen konnte. „Radiologen wurden 288 LITERATUR Der amerikanische Illustrator David Small erzählt in der Graphic Novel „Stiche“ von seiner Kindheit in den 1950er-Jahren als Sohn eines Radiologen Erst als ich alles zeichnete, merkte ich, wie ich alles noch einmal erlebte. Das war aufwühlend, befreiend und fesselnd 16 DURCHBLICK  2/2017


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